Zehn Jahre sind eine lange Zeit. 2013 war Frozen der erfolgreichste Film und Barack Obama war gerade wiedergewählt worden. Papst Benedikt ist 2013 zurückgetreten und Edward Snowden gerade aus den USA geflohen, der Arabische Frühling war in aller Munde und wir glaubten noch naiv, dass Social Media die Welt zum Besseren verändern würde. Das Nuklearabkommen mit dem Iran wurde geschlossen und ich, ich war auf Tour mit Frank Turner.
Ja, genau! 10 Jahre ist das jetzt her. Ziemlich beängstigend, wie schnell die Zeit dann doch vergeht. Ich schreibe diesen Blog am 20. September 2023, auf den Tag genau ein Jahrzehnt nach unserer letzten gemeinsamen Show im E-Werk in Köln. So viele Erinnerungen ziehen an mir vorbei, während ich mich durch alte Bilder und verwackelte Videos klicke kommt es mir vor als sei es in einem anderen Leben gewesen und gleichzeitig doch erst vergangene Woche. Mein erster Gedanke: Krass, so habe ich mal ausgesehen? Ich erkenne mich selbst kaum wieder. Wo ist der Bart… und so kurze Haare. Ein bißchen peinlich ist mir das fast. Ihr im Publikum habt es mir vielleicht nicht angesehen, aber ich sehe auch auf jedem Bild die Nervosität in meinen Augen. So viele Menschen vor denen ich jetzt spielen darf und auch spielen muss. Immer wieder kurze Gedankenflashs:
Geht das jetzt so weiter? Ist das jetzt immer so? Der Wunsch, dass das niemals aufhört. Ihr macht euch keine Vorstellungen davon, wie emotional so ein Konzert sein kann, wenn man von 4000 Leuten gefeiert wird, wenn man merkt, die mögen einen, die hängen einem an den Lippen. Und wie sehr das Gefühl süchtig macht. Wie groß die Leere nach einem so großartigen Erlebnis sein kann. Bruce Springsteen hat in seiner Autobiografie geschrieben, dass einer der Gründe, warum er so lange Konzerte spielt der ist, dass er sich vor dem Moment danach fürchtet. Nach meinem letzten Song gehe ich von der Bühne, die Geschichte habe ich schon ein paar Mal erzählt, und am Bühnenabgang wartet Ben Nichols von Lucero, der mich anschaut, dann zu Frank guckt, grinst und sagt: “I believe we ruined his life.” Und Frank, der mich ansieht, grinst und sagt: “Nah, he’ll be fine.”
10 Jahre ist das jetzt her. Ich schreibe diesen Blog zu Hause in Hamburg. Ich sitze im Wohnzimmer an unserem Esstisch, nebenbei läuft zum ersten Mal seit Jahren Tape Deck Heart. Losing Days. The Way I Tend To Be. Plain Sailing Weather. Tell Tale Signs. Gerade Polaroid Pictures. And the only thing certain is that everything changes. Ich bin ja ohnehin ein Nostalgiker vor dem Herrn und kann mich nur zu gut in Tagträumen an die Vergangenheit verlieren. Und dieser Song, Himmel triggert der mich.
10 Jahre ist das jetzt her. Ich bin gerade aus Spaß in die Band von ein paar Freunden eingestiegen. Die suchten einen Leadsänger und ich hatte Zeit und Lust mal wieder einfach wild Songs zu covern, nicht John Allen der Songwriter zu sein, sondern einfach nur John Allen, der Typ am Mikrofon. Letzte Woche sitzen wir nach der Probe noch zusammen, trinken Bier und gehen die Musikbibliotheken unserer Handys durch auf der Suche nach Songs, die mit mir als Frontmann realisierbar sind. Ich bleibe bei den Counting Crows hängen. Mr Jones, denke ich, und schüttle den Kopf. Aber Gänsehaut habe ich doch bekommen. We’re gonna be big stars… und dann steht da auf einmal rechts hinter mir Frank Turner und spielt Mundharmonika. 10 Jahre ist das jetzt her. September 2013. Ich habe sehr zum Verdruss einiger Kolleg:innen und vor allem sehr zum Unmut vieler Eltern von meiner Schulleitung drei Tage Sonderurlaub bekommen.
Mein stellvertretender Schulleiter damals war ziemlich rock’n’roll, hatte in seinem Büro Konzertkarten der Stones eingerahmt und trug manchmal Lederhose. Häng’ es nicht an die große Glocke im Kollegium, hat er gesagt. Und weiter: Aber ey, das musst du machen, so eine Chance bekommst du nur einmal. Und ganz ehrlich? Nur ein glücklicher Lehrer ist ein guter Lehrer. Wenn wir dir das verbauen, dann bist du kein glücklicher Lehrer mehr. Und wir wollen, dass du noch lange hier arbeitest. Das mit dem lange hier arbeiten hat dann nicht mehr hingehauen, aber meine Dankbarkeit ist über die Jahre ungebrochen.
10 Jahre ist das jetzt her. Und was waren das für Konzerthallen. Berlin, Bremen, München, Hannover Hamburg, Wiesbaden, Lindau. Vor allem Hamburg. Heimspiel. Große Freiheit 36. Ich gehe zum Soundcheck auf die Bühne und schaue auf den Dielenboden. Wer hier schon alles gespielt hat. Die Namen sind auf der Leuchtreklame am Eingang zu lesen. Rory Gallagher, Deep Purple, Coldplay, Paul Weller, Bob Geldorf, Neil Young, Nick Cave, Meat Loaf, Prince, REM, Rio Reiser, Pearl Jam, Robert Plant, White Stripes, Killers, Placebo, Wir sind Helden,… und ich – ich und all die Helden… über den meisten Bühnenaufgängen hängen Schilder, die Künstler:innen daran erinnern sollen, in welcher Stadt sie sind. In Hamburg steht “Bremen”.
10 Jahre ist das jetzt her. Das erste Mal bin ich auf der Straße erkannt worden. In München war das. “Ey, du bist doch John, der heute Abend mit Frank Turner hier spielt.” Ich war ganz erschrocken und hab danach kein Wort rausbekommen und bin einfach weitergegangen. Der Typ mit seiner Freundin hat mich bestimmt für einen riesigen Idioten gehalten. Wenn der wüsste…
10 Jahre ist das jetzt her. Ich hatte gerade einmal ein Album veröffentlicht, in Eigenregie. Sounds of Soul and Sin. Das ist lange vergriffen – vollkommen zurecht, wie ich finde, aber ich war noch nie der beste Kritiker meines eigenen Schaffens. Das Albumcover hatte ich bei Flickr rausgesucht (und ja, den Fotografen um Erlaubnis gefragt!) und ich weiß noch, als ich die CDs in der Hand hatte, schön im Digipack, da habe ich mich das erste Mal gefühlt wie ein Rockstar – immerhin hatte die CD einen Barcode! Einen BARCODE! Dazu wurde dann kurz vor der Tour noch eine Live EP zusammengeschustert, damit Leute vier Tracks kostenlos downloaden können. Live at Star Tunes. Einen dieser Flyer habe ich noch in meiner Schatzkiste, in der ich jetzt wühle. Da ist auch noch der AAA Backstage Pass und ein paar Zeitungsartikel – Artefakte, Überbleibsel aus einem anderen Leben.
10 Jahre ist das jetzt her. Erste Show, Dortmund, FZW. Ich reise mit dem Zug an. Auf halber Strecke steigt eine Dame ein und erklärt mir, ich hätte ihren Platz belegt und zeigt mir ihr Ticket. Tatsächlich, sie hat eine Reservierung – für den gleichen Platz wie ich. Wir gehen zum Schaffner, der mich milde anlächelt und sagt: “Junger Mann (ich!), ihr Ticket war für diese Strecke in der vergangenen Woche gebucht.” So beginnt sie also, die Tour mit Frank Turner, mit einer Schwarzfahrt im ICE. Großartig! Ich versuche mich zu erklären, stammle und ernte milde Blicke: “Suchen Sie sich einfach einen anderen Platz, wir sind so leer heute – fällt doch gar nicht auf!” Nach dem Soundcheck bin ich quasi nicht ansprechbar vor Nervosität. Frank lehnt im hinteren Drittel der Halle an einen Pfosten und kommt zu mir. Er umarmt mich zur Begrüßung und erklärt mir, ich hätte ihm gegenüber einen riesigen Vorteil: “You speak their language. Talk to them. They will understand…” Und tatsächlich, es funktioniert. Ich erinnere mich noch, FZW, ich komme raus, spiele Broken Hearts und sage als erstes: “Hallo, ich bin John Allen aus Hamburg – und die Bühne hier ist größer als die meisten Clubs in denen ich bislang gespielt habe.” Ein paar Leute lachen, andere drehen sich zu mir. Ich fühle mich, als hätte ich die Welt erobert.
10 Jahre ist das jetzt her. Ich sehe Frank, der kurz vor Konzertende in Berlin einen auf Rockstar macht und seinem Gitarristen Ben Lloyd aus Versehen das Mikrofon über den Schädel zieht. Und Nigel, der Schlagzeuger, der das hinter der Bühne lakonisch kommentiert: “Maybe you should take swinging lessons.” Ben Nichols von Lucero der mir beim Abendessen in Hannover Blood Meridian von Cormac McCarthy empfiehlt, ein Buch, das meinen Zugang zu Literatur nachhaltig verändert hat und mich später zu Two out of Three inspiriert hat. Und der mir Warren Zevon vorspielt.
10 Jahre ist das jetzt her. Nach der Show im Club Vaudeville in Lindau sitze ich im Zug zurück nach Hamburg – einmal längs durch die ganze Republik. Eine Ewigkeit. Draußen fliegt das Land vorbei und ich weine, weil ich weiß, dass nur noch eine einzige Show vor mir liegt. Mir wird die Endlichkeit dieser Tour bewusst. Ich steige in Hamburg aus und fühle mich ganz leer. An dem Abend spiele ich im Planetarium, Hamburg, und singe, von einem Pianisten begleitet drei Beatles Songs. Here Comes the Sun, While My Guitar Gently Weeps und In My Life. Ich versuche irgendwie Emotionen reinzubekommen, bin aber ausgebrannt und mit den Gedanken vollkommen woanders.
10 Jahre ist das jetzt her und seit dem ist nichts mehr wie es war. Es gibt sie wirklich, diese singulären Ereignisse, diese Momente, die ein Leben nachhaltig verändern. Ich habe die Geschichte wie ich dazu kam so oft erzählt, dass ich sie inzwischen selbst nicht mehr glaube. Ich komme mir vor wie der Protagonist einer fiktiven Geschichte. Manchmal, wenn ich darauf angesprochen werde, dann bin ich ein bißchen eingeschnappt, verdrehe innerlich die Augen und denke bei mir, dass es doch nun wirklich reicht, nach zehn Jahren, dass es doch wirklich inzwischen andere Dinge zu besprechen gäbe, dass ich seitdem x Alben gemacht und x Songs geschrieben habe und in mir fahren alle Schutzschilde hoch. Manches Mal habe ich innerlich geflucht und mich gefragt, ob ich wirklich nur der Typ mit der coolen Frank Turner Story bin.
Ich habe gehadert und es hat das ein oder andere Mal durchaus an meinem Ego gekratzt. Manche E-Mail war auch ziemlich unverschämt, wie einmal, als mir jemand vor fünf Jahren oder so schrieb, er würde gerne zu Frank Turner gehen, hätte aber keine Karte gekauft, ob ich nicht für ihn ein gutes Wort einlegen oder ihn einfach auf die Gästeliste packen könne. Oder ein anderer, der meinte, ich könne doch nicht ernsthaft erwarten, dass Menschen zu mir aufs Konzert gingen, wenn zeitgleich Frank auf Tour sei, da müsse ich schon besser drumherum planen. Oder eine Journalistin, die einmal insinuierte, ein weißes Hemd auf der Bühne zu tragen sei nun wirklich zu viel Anbiederung an den Look von Frank Turner und ob mir das denn nicht unangenehm sei. Jaja, das gab’s alles und hat dafür gesorgt, dass ich zwischendurch gelegentlich ein wenig gereizt war, wenn ich auf das Thema angesprochen wurde. Sollte ich bei dir einmal etwas ruppig reagiert haben oder kurz angebunden gewesen sein wenn die Sprache darauf kam, dann tut mir das leid, das hatte nie etwas mit dir persönlich zu tun.
Verdammt, 10 Jahre ist das jetzt her. Aber ich schaue lächelnd zurück und voller Dankbarkeit. Unmittelbar nach der Tour mit Frank haben sich mir so viele Türen geöffnet, die mir ansonsten verschlossen geblieben wären. Ich habe Menschen kennengelernt ohne die mein Leben auf undenkbare weise ärmer wäre. Ich bin gereist, habe Städte und Länder gesehen, die mir sonst fremd geblieben wären. Und doch ist da Wehmut. Ein Journalist einer bekannten Musikzeitschrift, der nach einer Show zu mir kommt und mir sagt: “John, du bist das nächste große Singer-Songwriter Ding in Deutschland, kein Zweifel.” Habe ich ihm geglaubt? Nein, nicht so wirklich, aber ich habe mir gewünscht, dass er recht behält und habe mir erträumt, dass es so kommen möge.
Jetzt, 10 Jahre später, weiß ich, dass er unrecht hatte. Klar, die Chance war bestimmt irgendwie da. Es waren handwerkliche Fehler, es waren viele falsche Entscheidungen dabei, die am Ende dazu geführt haben, dass ich nicht “das nächste große Singer-Songwriter Ding” geworden bin. Aber ein Ding wollte ich ohne hin nicht sein, denke ich mir gerade und lächle. “Macht ihr eigentlich irgendwann nochmal was zusammen?” wurde ich neulich nach einer Show gefragt. “Da musst du Frank fragen” habe ich geantwortet.
Die Wahrheit ist, wir haben lange keinen Kontakt mehr, haben uns nach der Tour noch zwei oder drei Mal gesehen, es war immer nett, aber es ist auch eben vor allem eines: 10 Jahre her! Naja, nicht ganz. Eine Show haben wir im Sommer darauf noch in Nürnberg zusammen gespielt. Hätte ich Lust das mal zu wiederholen? Sicher! Gehe ich davon aus, dass das passiert? Nein, nicht wirklich und irgendwie ist das auch gut so. Manche Dinge kann man, viele Dinge sollte man nicht wiederholen. Kann so eine Wiederholung den Erwartungen und den Erinnerungen an das erste Mal wirklich standhalten? Könnte ich da jetzt nochmal so herrlich naiv und herrlich unbelastet reingehen? Wohl kaum!
Jetzt, 10 Jahre später, kann resümieren das Frank mir auf die Beine geholfen hat – ich glaube, er war sich in keiner Weise bewusst, was das für mich bedeutet. Dass ich heute, 10 Jahre später, noch Musik mache, Shows spiele, toure, Alben mache, das verdanke ich wohl auch und vielleicht sogar in erster Linie dieser Tour… deswegen, auch wenn du das hier wohl nicht liest, thank you Frank! Bottom of my heart and so on. I love you!
Und ihr? Nun, mir ist selbstverständlich bewusst, dass die meisten von euch, die mir noch immer zuhören, damals irgendwo im Publikum standen, 10 Jahre jünger als heute, und sich gefragt haben, was der kleine schüchterne Junge mit der Gitarre da will. Und das ihr euch zu mir rumgedreht, mir applaudiert habt. Dass ihr mir das Gefühl gegeben habt, genau dort hinzugehören, auf diese große Bühne vor so viele Menschen. Dass ihr mir die Chance gegeben habt, zu sagen, was ich zu sagen habe. Das ist das schönste Kompliment von allen. Habt vielen Dank für die letzten 10 Jahre.
Für die Nostalgiker unter euch – meine Setlist der Tour:
Broken Hearts
On the Road
Confusion
Lessons I Have Learned
Springtime (in Köln: Movie Screens)
Home
Mr Jones (Counting Crows Cover – mit Frank Turner – nur in Lindau & Köln)
Thou Shalt Be Saved