Sorting by

×

Die Dynamik

Meiner Frau und mir fällt es mitunter schwer, uns zu einigen, was wir abends essen wollen. Gerade dann, wenn wir noch Gäste haben, ist es häufig besonders kompliziert einen Kompromiss zu finden. Das ist kein wirkliches Problem und interessiert euch auch vollkommen zurecht nur am Rande und doch bringt es mich heute ganz plötzlich dazu, über die Wahlen morgen nachzudenken. 

Es ist kaum zu glauben, aber wahr: Sogar jenseits der Allenschen Abendessensproblematik hat dieses Land Probleme. Christian Lindner würde sagen, Deutschland hat eine breite Palette an dornigen Chancen. Ich bevorzuge den Begriff “Probleme”.  Welche Probleme als wie dramatisch angesehen werden, das darf jede und jeder von euch für sich definieren. Ich persönlich würde Klimawandel und Bildungspolitik recht weit oben ansiedeln, aber, wie gesagt, bildet euch eure eigene Meinung. Viel wichtiger ist Folgendes: Alle vier Jahre im Wahlkampf suggerieren uns alle Parteien, sie alleine hätten die Lösung nicht nur für eines, sondern gleich für alle unsere dornigen Chan…, pardon, Probleme, und wenn man sie nur so machen ließe wie sie wollten, dann wären wir der nationalen und internationalen Harmonie schon sehr viel näher. Glaubt man beispielsweise Donald Trump, wäre der Krieg in der Ukraine niemals ausgebrochen, wäre er Präsident gewesen. Glaubt man Christian Lindner, löst sich der Klimawandel von alleine, weil technische Innovationen wie von Zauberhand kommen werden solange man nur genug Geld spart. Glaubt man Friedrich Merz, lässt sich kurz- bis mittelfristig alles durch ein Zustrombegrenzungsgesetz (ich äußere mich an dieser Stelle nicht zur geradezu menschenverachtenden Wortwahl!) zum Positiven wenden. Glaubt man Alice Weidel, liegt die Lösung im Abriss aller Windräder. Glaubt man Robert Habeck liegt die Lösung allein in der Errichtung neuer Windräder. Glaubt man Olaf Scholz läuft eigentlich ohnehin gerade alles ziemlich gut.

Der Wahlkampf, so könnte man es zusammenfassen, ist nicht zwingend die Zeit, komplexe Lösungsvorschläge anzubieten, die den Herausforderungen und Problemen vor denen dieses Land und dieser Planet stehen wirklich gerecht werden. Wahlkampf ist, wenn man so will, ein Theaterstück. Da ist ein vorgefertigtes Skript, da ist viel Make-Up und hinter allem steht der unbedingte Wille, dem Publikum so sehr zu gefallen,  dass es seinen Applaus in Scharen an der Wahlurne abgäbe. Robert Habeck spielt den Suppenkoch und treibt sich generell viel in Küchen herum, Friedrich Merz isst bei McDonalds um Volksnähe zu suggerieren, Olaf Scholz lässt sich beim Rudern filmen, um Führungsstärke auszustrahlen. Alice Weidel empört sich stellvertretend dauerhaft, um all den Empörten in diesem Land zu zeigen, dass sie nicht alleine empört sein müssen und Markus Söder macht, was Markus Söder immer macht – er sonnenkönigt. All das kann man albern finden und all das kann man kritisieren. Ich gebe gerne zu, dass ich beim RTL-Quadrell innerlich gejubelt habe, als Friedrich Merz die Frage, ob er die Vorstellung von Dschungelcamp oder Opposition schlimmer findet, sehr passend mit einem kopfschüttelnden “Ich muss mich doch sehr über diese Frage wundern” gestraft hat. Habe ich den Wahlkampf als Theaterstück bezeichnet? Vielleicht passt doch das Wort Zirkus besser. 

Die Tragik des modernen Wahlkampf lässt sich doch am ehesten in der Dynamik begreifen, dass was einst perfider, öffentlich verurteilter und damit eher singulär auftretender Populismus war, nämlich einem Volk vorzumachen, es gäbe und man hätte als Einziger die simple und kurzfristige Lösung, inzwischen in einer Realität resultiert, in der sich keine Seite mehr wagt, einem Volk vielschichtige Antworten überhaupt zu präsentieren. Anders formuliert, hat sich zwischen Volk und Vertreter:innen eine Beziehung entwickelt, in der jene, die Macht final ausüben, jene, die ihnen ebendiese Macht verleihen, strategisch intellektuell unterfordern bis zu dem Punkt, an dem sich keiner mehr traut, die Komplexität der Problematik überhaupt anzusprechen, weil er oder sie ehrlich fürchten müsste, vom Volk als unqualifiziert wahrgenommen zu werden. Nochmal einfacher formuliert: Die Verdummung und Vereinfachung, die Herunterbrechung des Wahlkampfs und der politischen Selbstinszenierung auf 20 Sekunden Clips für die sozialen Netzwerke, die Verschlagwortung der Komplexität hat sich als selbsterfüllende Prophezeiung entpuppt und entblößt mehr und mehr ihre autoritäre Fratze. Nirgends ist diese Tiktokisierung klarer zu sehen als bei den inzwischen inflationären TV Duellen, bei denen jeder Eingeladene seine vorher bis hin zur Betonung und Gestik auswendig gelernten Antworten in ein Format bringt, dass sich problemlos für das Internet recyceln lässt. 

Roger Willemsen sagte einmal, er habe noch nie einen Moderator getroffen, der nicht klüger gewesen sei, als sein eigenes Programm. Ich bin der Überzeugung, dies trifft auf fast alle Vertreterinnen und Vertretern der hohen Politik zu. Das kann man beruhigend finden. Man kann zweifelsfrei argumentieren, dass die Herren Merz, Scholz und Habeck wissen, dass nichts von dem, was sie im Wahlkampf propagieren und versprechen, nach der Wahl in dieser Form durchzusetzen ist. Dass sie das Spiel Wahlkampf spielen, um danach wieder der politischen Arbeit in all ihrer Komplexität nachzugehen. Im Wahlkampf, so ist zu hören, gehe es primär darum, das “Profil der Partei” zu schärfen. Ehrlicherweise halte ich genau das für das zentrale Problem. Wie oft habe ich in den letzten Wochen einen Satz gehört, der sich, in der einen oder anderen Variation so liest: “Es geht auch darum, den Menschen das Vertrauen in die Politik zurückzugeben.” Es scheint aber niemand zuzugeben zu wollen, dass genau jene Wahlkampfdynamik zu einem großen Teil mit verantwortlich dafür ist, das Vertrauen der Menschen in die Demokratie überhaupt erst zu zerstören. Ezra Klein schreibt in seinem fantastischen Buch “Der tiefe Graben” sinngemäß, das Drama der übersimplifizierten und überpersonalisierten Darstellung von Politik in der Öffentlichkeit manifestiere sich darin, dass wir bei der einen Wahl Helden beschwören, die uns versprechen auszuziehen und alles zu verändern, nur um bei der nächsten Wahl festzustellen, dass jene Helden nun wiederum selbst Teil des Problems geworden seien und auf die Star-Wars’sche dunkle Seite der Macht gewechselt sind. Als Wähler reagieren wir darauf indem wir uns neue Helden  suchen und so, nach Klein, beginnt der Kreislauf erneut und setzt sich so lange fort, bis wir das Vertrauen in alle klassischen politischen Akteure verloren haben. Parteien, die diese Dynamik längst erkannt haben, nutzen sie gezielt um sich selbst kurzfristige Vorteile zu verschaffen und stärken als Abfallprodukt ihres Strebens dabei die extremen Ränder, die sich, wie in Deutschland die AfD in Perfektion vorlebt, als Auffangbecken aller Empörten generiert und voller Schamlosigkeit noch weitaus lösungsentleerter als andere Parteien verspricht, Sprachrohr der politischen Veränderung zu sein. Nur was ist die Lösung für dieses Dilemma? Es ist ja naiv zu glauben, diese Maschine ließe sich kurzfristig aufhalten. Zu viele Parteien und Politiker:innen sind interessiert an ihrem Fortbestand. Fragen Sie, neben der AfD mal Markus Söder, Christian Lindner, Hubert Aiwanger oder Sahra Wagenknecht. 

Jetzt, da morgen die Bundestagswahl ansteht, könnte man diesen Text sicherlich als Rechtfertigung verstehen, von seiner Bürgerpflicht des Wählens Abstand zu nehmen. Frustrierend ist dieses ganze Zinnober allemal. Und man könnte an dieser Stelle sicherlich resignierend konstatieren, dass ohnehin alles irgendwie für die Katz sei, weil ja jede Partei irgendwie dieses Spiel mitspielt und auch befeuert. Jedoch ist das Gegenteil ist der Fall! Auch wenn kurzfristig keine Lösung in Sicht ist, könnte die Regulierung der eigenen Erwartungen an eine neue Regierung  eine Strategie sein, jene oben beschriebene Dynamik langfristig zu unterwandern. Keine neue Regierung wird ihre Wahlversprechen auch nur zu 40% halten können. Das werden die Mehrheiten im Parlament nicht hergeben. Wenn in den kommenden Wochen eine Koalition der Union mit den Grünen oder SPD oder gar beiden entsteht, kommen vier Jahre voller Kompromisse auf uns zu, die wir im demokratischen Sinne keiner der Parteien wirklich übelnehmen können. Es wird vielmehr darauf ankommen, dass wir genau hinsehen welche Zugeständnisse von wem gemacht werden, welches quid-pro-quo angenommen und wo die eigenen Ideologien nicht zu billig verkauft werden. Kann und wird das mitunter wie Stillstand empfunden und als frustrierend aufgefasst werden? Absolut. Aber es ist wichtig sich daran zu erinnern, dass genau das der demokratische Prozess ist, dass sich parlamentarische Realität erst auf Basis eines Wahlergebnisses manifestiert. Darauf mit Wut, Unverständnis und Empörung zu reagieren ist genau jene Dynamik, die die AfD auch in den kommenden Jahren auszuspielen zu versuchen wird. “Schaut sie an, die Altparteien!” Fallt darauf nicht hinein. 


Gleichzeitig wäre es allerdings zu einfach, die Verantwortung hier alleine in die Hände des Volkes zu legen. Auch alle Vertreter:innen im künftigen Parlament sollten dringlichst daran erinnert werden, dass Politik mehr ist als ein reiner Selbstzweck. Die vier Jahre im Parlament, egal ob in der Opposition oder als Teil einer Regierungskoalition sind mehr als die Vorbereitung eines hoffentlich besseren Wahlergebnis in vier Jahren und sollten entsprechend mit angemessener Würde, angemessenem Verantwortungs- und Pflichtbewusstsein und mit deutlich weniger narzisstischer Selbstinszenierung angetreten werden – parteiübergreifend sind doch einige der Damen und Herren im Parlament schlicht unerträglich. 

Ist all das eine Utopie? Wahrscheinlich. Aber wenn wir aufhören, utopische Gedanken zu formulieren, hören wir auf an wirkliche Veränderung zu glauben und dazu bin ich nicht bereit. Ihr Lieben, die ihr diesen Text bis zum Ende gelesen habt: Geht verantwortungsvoll wählen und bedenkt, dass so wichtig die eigenen Interessen bei der Wahlentscheidung sind, in einem Staat, in einer Gemeinschaft wählt man niemals nur ganz für sich alleine. Wir sind eine Demokratie, eine Egokratie. Es wird die perfekte Wahl nicht geben, nicht für euch individuell, nicht für das Land. Es wird die Partei nicht geben, die eure Interessen zu 100% abdeckt, eure Bedürfnisse zu 100% erfüllt, eure Weltanschauung zu 100% teilt. All das ist kein Grund keine Wahlentscheidung zu treffen. 

Wählen ist in dieser Hinsicht dann doch wie die Diskussion um großfamiliäre Abendessen: man schaut natürlich auf seine Wünsche, achtet aber eben auch auf die Haselnussallergie von Tante Frieda, auf die Tatsache, dass Onkel Erwin seit neuestem kein Fleisch mehr isst und versucht es irgendwie hinzukriegen, dass der angeheiratete Schwager, den noch keiner so richtig kennt, sich gut am Tisch integrieren kann. Und wir sind uns doch sicher einig, dass die Lösung nicht sein kann, einfach gar nicht zu essen und die Veranstaltung abzusagen, oder? Und nein, remigrieren würden wir auch niemanden! 

In diesem Sinne: Guten Appetit und bleibt stabil!