Es gibt Aspekte, in denen sind sich Konzerte und Fussballspiele gar nicht so unähnlich. Es geht um Schweiß, um Emotionen, um Euphorie, um Betroffenheit. Manchmal fließen auch Tränen. Und es gibt Heimspiele, denen man besondere Bedeutung zumisst. Immer vorausgesetzt man ist Fan der jeweiligen Band oder der angesprochen Künstler – wer würde nicht gerne U2 in Dublin sehen, Billy Joel im Madison Square Garden in New York. Springsteen in Jersey, Tom Petty in Gainesville, Florida. Von mir aus auch Herbert Grönemeyer in Bochum. Und auch aus Künstlersicht sind Heimspiele besonders. Wie eine Fussballmannschaft sich auf den Auftritt vor heimischer Kulisse freut, so fiebern auch wir besonders den Shows in der Heimat entgegen. Natürlich gibt es Auswärtsfahrten die besonders sind. Tolle Stadien, Arenen, Clubs, Hallen, tolles und frenetisches oder vielleicht auch einfach besonders treues Publikum – manche reisen sogar weit um das eigene Team oder den Lieblingskünstler mehrfach zu sehen, aber Heimspiel ist besonders. Und mit großer Erwartung geht, wie könnte es anders sein, besonderer Druck einher. Wer seine Heimspiele nicht gewinnt, der steigt ab, lehrt der Fussball. Wer die Erwartungen zu Hause nicht erfüllt, der hat es auch in der Ferne schwer – Ausnahmen bestätigen hier die Regel.
Und weil ich nicht nur Musiker sondern auch Fussball Fan bin weiß ich um all das und so sitze ich am Samstag Nachmittag am Wohnzimmertisch, die Gitarre auf dem Schoß, brüte über der Setliste für den Abend und habe Bauchschmerzen. Mein Freund Lukas ist da, er besucht mich über das Wochenende aus München. Auch meine Frau sitzt mit am Tisch. Ich bin noch ungeduscht und schiebe ich Songs herum als wären sie abgeliebte Dekoartikel, solche, von denen man sich nicht trennen kann, die aber auch keine richtige Heimat mehr zu haben scheinen. “Spiel doch Raise Your Voice, das mag ich gern”, sagt meine Frau plötzlich. “Geht nicht”, knurre ich ohne sie anzuschauen. “Ist schlecht gealtert.”
“Wieso das?”
“Ein Song, den ich regelmäßig auf der Bühne mit dem Aufruf, nicht alles zu glauben, was einem die Medien berichten und mit der Aufforderung “querzudenken” angekündigt habe ist mir eher zu schlecht gealtert.”
“Kann man so sehen”, grinst Lukas.
“Außerdem rufe ich darin halt original auf, eine Armee zu formen und zum Kapitol zu ziehen. Geht nicht!”
Stille.
“Ach, egal, was du spielst, es wird bestimmt toll.”
Solche Ratschläge, gut gemeint in jedem Fall, helfen mir gerade wenig weiter. Ich bin chronisch unzufrieden mit allem, was ich zusammenbastle. Mit jedem neuen Album wächst die Herausforderung, eine homogene Setlist zu bauen. Mein Erstentwurf (und mein Zweitentwurf – und mein Drittentwurf) haben eklatante Schwächen, die allerdings nur mir aufzufallen scheinen: Zu wenige up-Tempo Nummern. Zu wenige Songs vom neuen Album. Zu viel Melancholie. Zu wenig Hits. All Filler, little Killer. Und außerdem habe ich keine Idee, wie ich einen geschickten Übergang von Song 8 zu Song 9 bauen soll. Ich arbeite gegen die Uhr. Gegen meine eigene Unsicherheit. Gegen die Sorge, dass am Ende die Show meine eigenen Erwartungen nicht erfüllt.
Ich denke an U2, an Springsteen, an Billy Joel, an Tom Petty, an Herbert Grönemeyer. Die machen sich solche Sorgen bestimmt nicht. Außerdem sind auch publikumstechnisch deren Heimspiele eher Selbstläufer. Wenn man allerdings John Allen heißt, dann hofft man gerade in Hamburg mehr Zuschauerinnen und Zuschauer zu “ziehen” wie man sagt. Man hofft. Man weiß nicht. Wenn man John Allen heißt, hat man ohnehin konstant Angst, enttäuscht zu sein. Zumindest war der Vorverkauf nicht schlecht. Am Donnerstag wurde mir per Mail mitgeteilt, dass 45 Tickets weg sind. Ich war angenehm überrascht, in meinem letzten Albtraum waren es nur 9 gewesen, davon 10 an enge Freunde – im Traum hab’ ich das nicht hinterfragt.
Die Astra Stube ist winzig. Wenn man als Künstler darauf besteht, so etwas Extravagantes wie einen Merchtisch aufzubauen, dann fasst der Laden knapp über 70 Menschen. Nicht die Welt, aber gerade das erhöht ja für mich auch den Druck. Wenn du nicht mal 70 Menschen in deiner Heimatstadt motiviert bekommst, sagt mein Kopf, dann kannst du auch gleich einpacken.
Gegen 16:30 Uhr wird es Zeit zu packen. Inzwischen bin ich geduscht und die Setliste ist ausgedruckt, aber ich weiß schon jetzt, dass ich sie im Laufe des Abends erst noch mindestens zwei Mal ändern und wahrscheinlich am Ende weitestgehend ignorieren werde. Einer der Vorteile ohne Band auf der Bühne zu stehen: Man kann machen was man will! Get-In in der Astra Stube ist 18 Uhr, dann Aufbau, Soundcheck. Einlass 20:00 Uhr, Beginn 20:45.
Als wir ankommen traue ich mich nicht so richtig zu fragen, ob sich bei den Vorverkäufen noch etwas getan hat. Da ist die Hoffnung auf der einen Seite, aber auch die Angst vor der Reaktion. “Nee, John, leider nicht, außer den 45 Leuten will dich glaube ich keiner sehen. Und wer weiß ob die kommen. Vielleicht finden die ja auch noch was besseres zu tun.” Zugegeben, so habe ich das noch nie gehört, aber vieles, was ich in den vergangenen Jahren real gehört habe klang verdammt ähnlich – zumindest in meinen Ohren. Ria, die für die Show Bar und Einlass organisiert schaut noch einmal nach. 68 Tickets. Das ist ziemlich, ziemlich gut. Dazu noch ein wenig Gästeliste, dazu noch Freunde, die mich gebeten hatten, für sie auf alle Fälle Tickets zu reservieren.
Ich merke in mir zwei Gefühle aufkommen. Da ist auf der einen Seite die Euphorie: Wir könnten ausverkauft werden. Wie schön wäre das denn? Und auf der anderen Seite ist da sofort mein kleiner Teufel auf der linken Schulter, der mir sagt: Hamburg hat zwei Millionen Einwohner, mehr oder weniger, und du freust dich über 80 Leute. Ein toller Rockstar bist du. Ja verdammt nochmal, ich freue mich über 80 Leute. Und wenn Hamburg 20 Millionen Einwohner hätte. Ich entscheide mich dafür, zu meiner Verwunderung erfolgreich, meinen Kopf in Richtung Euphorie zu drehen. Der Soundcheck läuft, der Magen knurrt. Zusammen mit Lukas gehe ich eine Kleinigkeit essen. Auf der Schanze begegnen wir zweimal Menschen die mich freundlich anlächeln und grüßen. “Hi John – wir freuen uns auf gleich!” und “Hi John, falsche Richtung! Haha!” – “Fucking famous” grinst Lukas. “Ich bin hier mit nem Promi unterwegs.” Vielleicht fühle ich mich etwas mehr geschmeichelt als es angesichts der freundlichen Ironie angemessen wäre.
Als wir kurz vor Einlass zurück zur Astra Stube kommen kommt Ria zu mir. “John, wir wären dann offiziell ausverkauft.” Sie sagt es beiläufig, so, als ob es nichts wäre.
Ausverkauft. Also doch. Ich setze mich, schließe kurz die Augen. Innerlich und emotional wird aus dem Wohnzimmer Astra Stube eine Arena. Ausverkauft. Ich weiß nicht, wie lange ich das schon nicht mehr gehört habe, zumindest im Zusammenhang mit einem meiner Konzerte. Nach den letzten Jahren Pandemie, nach zahllosen abgesagten Konzerten oder solchen, die aus Gründen aller Art mehr schlecht als recht besucht waren, ist das Balsam für die Seele. Scheiß egal ob 80 oder 80,000 Menschen. Und nicht des Geldes wegen. Die letzten Jahre waren schwer und der Zuspruch tut gerade unendlich gut. Mir gelingt es sogar, den Moment einfach nur zu genießen und ihn nicht in künstlichen Druck zu verwandeln, eine Tatsache, die mich selbst überrascht. Gegen 20:40 trinke ich mit Lukas einen großen Schluck Whisky, stimme noch einmal meine Gitarren und setze mich ans Klavier. Schon bei den ersten Akkorden wird mir bewusst, was es für eine großartige Entscheidung war, letzten Spätsommer nach dem Whatever Happens Festival wieder in ein E-Piano zu investieren. Ich eröffne die Show mit Good Times auf dem Klavier. Ich kann mir keinen besseren Auftakt vorstellen. Es wird sofort ruhig. Saturday Night and you ain’t feelin’ right, you say that you got too much on your mind. You look so sad and right now, you feel to bad. Von der ersten Gesangszeile an merke ich, dass mein Stimme voll da ist und weil ich weiß, dass ich an den Folgetagen keine weiteren Shows habe für die ich meine Stimme schonen müsste singe ich um mein Leben.
Ich werde oft gefragt, ob ich mir die Geschichten zwischen den Songs bewusst ausdenke. Manchmal ist das so, ja. Die Hemingway Geschichte habe ich über die letzten vier oder fünf Jahre so oft erzählt, dass ich sie eigentlich selbst nicht mehr hören kann. Heute Abend ist alles improvisiert. Criminals and Baseball Stars breche ich im Intro ab, weil mir spontan ein kleine Anekdote einfällt.
Wie gut eine Show ist hängt für mich in erster Linie vom Publikum ab. Nicht zwingend von der Größe des Publikums, sondern von der Aufmerksamkeit. Muss ich um Ruhe bitten? Gelingt es mir, das Publikum an den richtigen Stellen zum lachen zu bringen? Wird mitgesungen? Finde ich Personen in der ersten Reihe die mich anlächeln? Wie ist die Reaktion nach dem ersten Lied? All das entscheidet für mich unterbewusst, ob ich wirklich loslassen kann oder ob das Gefühl bleibt, mir die Liebe erarbeiten zu müssen. Heute Abend ist es ein Heimspiel – wirklich – ohne blöde Wortspiele. Ab dem ersten Klavierakkord legt sich Stille über die Astra Stube, die wirklich so voll ist, dass niemand mehr umfallen könnte, selbst wenn er oder sie das wirklich versuchte. Und mit dem Ausklingen von Good Times wird klar, der Fokus aller liegt zu 100% auf mir. Ich suche seit Jahren nach einer guten Beschreibung für dieses Gefühl, finde aber keine. Ihr könnt mir einfach glauben wenn ich sage, dass es sich wahnsinnig, wahnsinnig gut anfühlt. Ich merke, dass ich mich öffnen kann, dass ich vielleicht ein bißchen mehr von mir preisgebe als ich es an anderen Tagen tun würde.
Am Ende wird es eine wahnsinnig emotionale Show. Einige werden mir später erzählen, dass sie weinen mussten. Andere werden mir erzählen, dass sie viele haben weinen sehen. Alle werden beinahe entschuldigend hinterherschicken, dass es ein “gutes Weinen” gewesen sei.
Nach 100 Minuten regulärem Set spiele ich mit Home noch eine Zugabe. Meine Stimme ist zu dem Zeitpunkt schon längst lädiert, aber einer geht noch. Als der Song rum ist und ich von der Bühne gehe – was ob der Enge im Raum wirklich schwierig ist, merke ich, dass ich ob all des Applauses selbst kurz davor bin zu weinen.
Später am Abend, es ist schon nach Mitternacht, sitze ich mit Lukas wieder zu Hause am Wohnzimmertisch. Nach vielen Komplimenten, die wirklich anzunehmen mir noch immer schwer fällt, nach ein paar Fotos mit Freunden und Fans, nach Umarmungen, die so gut tun, leeren wir noch ein paar Gläser Whisky und reden über die Show. Ich schaue kurz ein paar Videos an, die nette Menschen bei instagram oder Facebook geteilt haben und lese die Kommentare laut vor. Ich bin high, euphorisiert, viel zu aufgedreht um schlafen zu gehen. Es gibt Momente, die niemals enden sollten.
Wenn ich im Stadion bin und mein Verein schießt ein Tor, dann ist das ein wenige Sekunden andauernder, unprätentiöser, ungeplanter und vollkommen unvorbereiteter emotionaler Vulkanausbruch. Es gibt wenig Dinge, die sich so gut anfühlen. Mit der Show am Samstag werde ich daran erinnert, dass es möglich ist dieses Gefühl zu verlängern. Ich schreibe diese Zeilen am Freitag, also fast eine ganze Woche nach der Show und bin noch immer beseelt, glücklich, euphorisiert, lächle grenzdebil in mich hinein und kann ohne zu übertreiben sagen, dass mich das high durch die Woche getragen hat.
Ich weiß, dass die nächsten Shows vielleicht nicht so laufen werden. Ich weiß, dass es Abende gibt und auch in der Vergangenheit in großer Zahl gegeben hat, an denen ich in Shows deutlich mehr investiert als profitiert habe. Abende, an denen mich Shows Kraft kosten, ohne dass ich im Gegenzug Kraft daraus ziehen kann. Wenn ich 90 Minuten singe und mein Verein kassiert in der letzten Minute das 0:1, manchmal fühlen sich Shows so an. Weil ich merke, dass ich stimmlich nicht auf der Höhe bin. Weil ich merke, dass ich den Zugang zu meinen Emotionen nicht herstellen kann. Weil ich abgelenkt bin. Weil ich es nicht fühle. Weil manchmal auch einfach das Publikum, oder zumindest Teile des Publikums nerven. Weil ich gegen ein Wand aus Lautstärke ansingen muss. All das kommt vor. Oder weil ich insgeheim doch enttäuscht bin, wenn nur 10 Menschen zu einer Show kommen und die dann verloren in einem 150er Club stehen. Auch das kommt vor. An solchen Abenden frage ich mich oft, ob es das wirklich wert ist und wem ich hier versuche etwas vorzumachen. Und dann ist Samstag. Und dann ist Heimspiel. Und dann ist ausverkauft und dann weiß ich, dass es das alles wert ist. Dann weiß ich, dass es kein besseres Gefühl im Leben geben kann.
Vielen Dank an alle Zuhörerinnen und Zuhörer in der Astra Stube am Samstag. Ihr habt mich glücklich gemacht! Ich freue mich auf das nächste Heimspiel.