Es gibt eine Handvoll Künstler, die mir die Welt bedeuten. Bob Dylan ist so einer, kein Geheimnis. Tom Petty ist ein anderer, ich covere gefühlt auf jedem zweiten meiner Konzerte irgendeinen Petty Song. Dann ist da Nick Cave und da ist definitiv Tom Waits. Ok, und Paul Simon, ist halt eine freakige Hand mit mehr als fünf Fingern. Aber ihr wisst, worauf ich hinaus möchte: Es gibt jede Menge Künstler*innen deren Musik ich wahnsinnig, wahnsinnig mag, aber darüber gibt es die Liga derer, die mich seit Jahrzehnten begleiten und die in schöner Regelmäßigkeit den Soundtrack für meine Emotionen geschrieben haben. Bei den meisten dieser Künstler ist dieser Tage Abschiednehmen angesagt. Tom Petty ist schon vor einigen Jahren gestorben, Tom Waits tritt nicht mehr auf. Auch Paul Simon hat das Touren aufgegeben. Bob Dylan ist inzwischen über 80 und es ist durchaus im Rahmen des denkbaren, dass die Deutschlandkonzerte im vergangenen Herbst die letzten waren, die er gespielt hat. Nick Cave bildet hier die Ausnahme. Und eben Bruce Springsteen. Der Mann, über den Busenfreund Obama einst sagte: “I might be the President, but he is the Boss.”
Gestern Abend, fast ein Jahr nachdem ich die Tickets gekauft hatte, war es dann soweit. Boss Time, mein erstes Springsteen Konzert nach 11 Jahren. Damals, auf der Wrecking Ball Tour 2012 war ich in Frankfurt gewesen, jetzt ist es das Volksparkstadion, Hamburg. Dazwischen hatte ich ihn jedesmal verpasst weil ich selbst auf Tour war. Diesmal aber, soviel war klar, würde mich nichts und niemand davon abhalten (nicht einmal mein später noch zu thematisierender Kloß im Hals) noch einmal den Boss und die heart-stopping, pants-dropping, earth-shaking, viagra-taking (jep, hat er wirklich gesagt!) legendary E! Street! Band! zu sehen, denn auch hier lässt der unaufhaltsame Alterungsprozess vermuten, dass eine erneute Tour in Europa zumindest unwahrscheinlich wird. Zwischen der jetzigen und der letzten Tour lagen sechs Jahre. Rechnen wir zusammen wäre Springsteen in jedem Fall Ende 70 bei einer Rückkehr, bei jedem seiner regulären Bandmitglieder, mit Ausnahme von Saxofonist Jake Clemons, sähe es ähnlich aus. Wenn die Zeichen auf Abschied stehen, greift man auch gerne etwas tiefer in die Tasche. 150€ für einen Stehplatz direkt vor der Bühne ist wahrlich kein Pappenstiel, aber wenn ich es für irgendjemanden gerne gebe, dann für Springsteen – immerhin weiß man, was man bekommt. “Früher haben wir 30 Minuten Shows gespielt”, sagte Paul McCartney neulich, “das war für alle ok. Das ging irgendwann nicht mehr und ich gebe die Schuld daran Bruce Springsteen.” Der Boss ist legendär für seine Endlos-Shows. Bei meinem letzten Konzert 2012 waren es 30 Songs und knapp dreieinhalb Stunden Spielzeit. “Da bekommt man was für sein Geld”, murmle ich zu meiner Frau, die mit den Augen rollt und sagt: “Ist auch so’n Boomer Spruch!”
Gestern waren es keine dreieinhalb Stunden. Es waren auch keine 30 Songs. Es waren zwei Stunden und 55 Minuten, es waren “nur” 26 Songs. Alles andere hingegen bleibt unverändert, vor allem die Intensität, die ab der ersten Minute entsteht. Einzeln, nacheinander kommen die insgesamt 15 Mitglieder der E Street Band auf die Bühne, nehmen ihre Plätze ein bevor Bruce Springsteen die Bühne betritt. Er hängt sich seine Esquire um, schließt die Augen, zählt ein. ONE! TWO! THREE! FOUR! Er beginnt mir No Surrender vom 1984er Album “Born in the USA”. Was eine Botschaft zum Anfang. “We made a promise, we swore we’d always remember. No retreat, baby, no surrender!” Wir haben es euch doch versprochen. Egal was kommt, wir geben nicht auf.
Dann Ghosts: “I need you by my side, your love and I’m alive”. Schon jetzt ist klar, diese Setlist ist kein zusammengewürfeltes Konglomerat an Hitsingles, diese Setlist folgt einem Narrativ. Wir hier oben, ihr dort unten, komme was wolle, ein verschworener Haufen bis ans Ende aller Zeiten. Prove it All Night. Ich beweise es euch und zwar nicht einmal, nicht zweimal, sondern den ganzen Abend.
Gestern waren es keine dreieinhalb Stunden. Es waren auch keine 30 Songs. Es waren zwei Stunden und 55 Minuten, es waren “nur” 26 Songs. Alles andere hingegen bleibt unverändert, vor allem die Intensität, die ab der ersten Minute entsteht. Einzeln, nacheinander kommen die insgesamt 15 Mitglieder der E Street Band auf die Bühne, nehmen ihre Plätze ein bevor Bruce Springsteen die Bühne betritt. Er hängt sich seine Esquire um, schließt die Augen, zählt ein. ONE! TWO! THREE! FOUR! Er beginnt mir No Surrender vom 1984er Album “Born in the USA”. Was eine Botschaft zum Anfang. “We made a promise, we swore we’d always remember. No retreat, baby, no surrender!” Wir haben es euch doch versprochen. Egal was kommt, wir geben nicht auf. Dann Ghosts: “I need you by my side, your love and I’m alive”. Schon jetzt ist klar, diese Setlist ist kein zusammengewürfeltes Konglomerat an Hitsingles, diese Setlist folgt einem Narrativ. Wir hier oben, ihr dort unten, komme was wolle, ein verschworener Haufen bis ans Ende aller Zeiten. Prove it All Night. Ich beweise es euch und zwar nicht einmal, nicht zweimal, sondern den ganzen Abend.
So geht es weiter, Song um Song. Nur an ganz wenigen Stellen gehen die Lieder nicht ineinander über, gönnen sich Springsteen und die Band eine kurze Verschnaufpause. Die Spielfreude und die Energie greift ab der ersten Sekunde auch auf die letzten Reihen des Stadions über. Die Soli fliegen von Roy Bittan am Klavier, zu Springsteen an der Gitarre oder der Mundharmonika, zu Jake Clemons am Saxophon, zu Little Steven und Nils Lofgren an den Gitarren, zu Sister Suzie an der Geige, zu Max Weinberg, der Maschine am Schlagzeug. Überhaupt, Max Weinberg. Wie unaufgeregt, wie präzise, wie treibend, wie spektakulär gut spielt eigentlich Max Weinberg? Der Motor der Band, der mühelos durch die Genres springt, von Rock’n’Roll zu Soul zu leichten Jazz Anklängen bei Kitty’s Back. Mighty Max Weinberg, der so akzentuiert spielt, der nicht einen einzigen Beat verpasst, der sich blind mit Bruce Springsteen versteht und jede Bewegung des Boss richtig deutet. Ach, soviel könnte man über jedes einzelne Mitglied der Band schreiben. Über Professor Roy Bittan, dessen charakteristisches Klavierspiel auch schon die Alben von Meat Loaf geprägt hat und der stoisch hinter dem Yamaha Flügel sitzt, als sei es das alltäglichste der Welt. Über Little Steven van Zandt, der schillernd wie eh und je, den Fedora Hut tief ins Gesicht gezogen, fasanengleich auf die Bühne stolziert und dessen lange, mit Federn geschmückte Ohrringe auch die Vermutung nahelegen, er diene der Band nicht nur als Gitarrist, als Sänger, als Sparringspartner für humorvolle (wenn gleich nicht wirklich spontane) Schauspieleinlagen, sondern er lese auch die Zukunft aus diversen Glaskugeln im Backstage. Oder über Nils Lofgren, der bei Because the Night beginnt, sich beim Solo wie ein Derwisch um sich selbst zu drehen, der sich in eine Form von Extase spielt, um die ihn jeder zwanzigjährige Gitarrist beneidet. Oder über Jake Clemons, der die überlebensgroßen Fußstapfen seines Onkels voller Andacht und Respekt spielerisch ausfüllt.
Es gibt nicht wenige Momente während des Konzerts, in denen ich das Gefühl habe, meine Seele verlasse meinen Körper. Ich bin eins mit der Musik, mit dem stampfenden Rhythmus. Ich klatsche, ich hebe meine Hände, ohne das es mir wirklich bewusst ist. Ich greife mir in die Haare in einem erfolglosen Versuch im Jetzt zu begreifen, was gerade geschieht. Mein Blick streift umher. Schon seit kurz nach Mittag haben meine Frau und ich angestanden und haben Plätze in der dritten, vierten Reihe mittig ergattern können – viel besser geht es nicht. Drei Meter von mir entfernt drischt Springsteen auf seine Gitarre ein. Um mich herum sehe ich Menschen wie in Trance. Ich sehe Extase und beseelte Gesichter, ich sehe Tränen, ich sehe pures Lebensglück in meiner direkten Umgebung, ich sehe Menschen, die sich verstanden fühlen, in der Ferne, Menschen die auf den Tribünen stehen und tanzen. In diesen Momenten wird mir klar, dass ich weniger Gast eines Konzerts, denn Teilnehmer eines Gottesdienstes bin. Wir sind als Gemeinde gekommen.
Und dann, mitten im Set, ist da plötzlich Stille. Nach The River verlässt die Band die Bühne, das Bühnenlicht wird abgedunkelt. Springsteen erzählt die Geschichte von George Theiss, einem Mitglied seiner ersten Band The Castilles. Mit dem Tod von Theiss’ 2018 habe er realisiert, er sei das letzte noch lebende Mitglied seiner ersten Band. “I am the last man standing now” singt er in eine Arena die plötzlich so leise wird, dass man glaubt, Springsteen singe hinein in die ewige Leere.
Da steht er, der 73jährige Bruce Springsteen, der letzte Überlebende eines Traumes, der mit seiner ersten Band vor beinahe 60 Jahren begann und entblößt sich, häutet sich, berauscht sich, betrinkt sich an der Masse und an sich selbst. Erbeherrscht wie kein anderer die gesamte Klaviatur der Emotionen. Wut und Verzweiflung, Verletzlichkeit und Stärke, Liebe und Trauer, Aufbruch, Resignation und pure Lebensfreude. Natürlich ist vieles Routine und natürlich ist viel Autopilot im Spiel, aber ist das wichtig? Schmälert das wirklich die Show? Wenn es sich echt anfühlt, was spielt es dann schon für eine Rolle ob jede Geste geübt, getimt, jeder Gag zwischen Little Steven und ihm abgesprochen ist?
Springsteen schafft etwas, das in dieser Form nur wenigen gelingt. Seine Persönlichkeit alleine füllt eine ganze Stadionbühne. Sein Charisma, sein Glaube an seine Band und an sich und seine Fähigkeiten sind so überzeugend und ansteckend, dass man seine Aufmerksamkeit, seine eigene Verletzlichkeit, seine Liebe, seine Hoffnungen und Träume nur zu gerne in seine Hände legt, wohlwissend, dass er damit umzugehen und einen nicht zu enttäuschen weiß. Für eine definierte Zeitspanne verwandelt er Menschen in die bestmögliche Version ihrer selbst, in Versionen, die alle ihre Sorgen entweder vergessen oder sich zumindest verstanden fühlen. Und ja, natürlich klingt das pathetisch und für Außenstehende wahrscheinlich ein bißchen sehr viel überspitzt, aber deswegen seid ihr ja auch Außenstehende – no offense!
Als wir gehen blicken wir auf dem Weg vom Stadion zurück Richtung S-Bahn Haltestelle in abertausende ungläubige Gesichter, die alle an dem Versuch scheitern, das gerade Erlebte zu verarbeiten. Und mir? Mir geht es genauso. Als ich in der Nacht noch versuche Tagebuch zu schreiben fehlen mir die Worte. Erst heute morgen kann ich langsam damit beginnen, das Gesehene einzuordnen.
Die drei Stunden mit Springsteen haben gezeigt was Musik kann, welche Magie in drei Akkorden steckt. Nach schweren Wochen bin ich gestern morgen aufgestanden, mit einem emotionalen Kloß im Hals, der mir Luft und Liebe und Lebensfreude abgeschnürt hat. Ja, Himmel, ich hatte sogar überlegt, das Ticket noch kurzfristig zu verkaufen weil es mir schwer fiel, mich auch nur für ein Konzert zu motivieren. Und gestern Abend dann kam ich befreit zurück nach Hause. Ein anderer Mensch, zumindest für den Moment. Total verschwitzt und doch gereinigt, komplett erledigt doch voller Tatendrang und Optimismus, einen Tag älter und doch gefühlte fünf Jahre jünger.
Sein letzter Song war übrigens auch akustisch. Nachdem er jedes Bandmitglied mit Handschlag und Umarmung von der Bühne verabschiedet hat greift er noch einmal zur Akustikgitarre, hängt sich den Mundharmonikahalter um. Das Licht ist jetzt beinahe vollständig aus, nur noch ein paar wenige Spots auf ihm. Stille. Ein paar Worte nur zum Ende der Show, dann I’ll see you in my dreams. When all our summers have come to an end. I’ll see you in my dreams. We’ll meet and live and laugh again. I’ll see you in my dreams. Yeah, up around the river bend. For death is not the end. And I’ll see you in my dreams. “Thank you, Hamburg.” Einmal winken und es ist vorbei. Ja, verdammt, es klingt nach Abschied und fühlt sich genau so an und ja, ein wenig bricht es mir das Herz. Aber wir sehen uns wieder, Bruce, da bin ich mir sicher. Um es mit den Worten von Paul McCartney zu sagen: “Here, there and everywhere.”